Startseite Menü einblenden Übersicht: Sonntagsbriefe 06.06.82 17.10.82 Drucken
Schild der actio spes unica

Meine lieben Brüder und Schwestern!

 

Es wird viel und gerne gesprochen von Wundern. "Da ist ein Wunder geschehen – dort! Haben Sie's gelesen? Es ist wieder jemand plötzlich geheilt worden. Der und jener hat besondere Offenbarungen empfangen. XYZ ist die Gottesmutter erschienen. An diesem Ort hat sich in der Windstille Gras bewegt. Ganz bestimmt! Und woanders ist plötzlich eine Nelke aus einem Stein gewachsen. Dabei hat der Heiland der Seele sowieso folgende Warnungen ausgesprochen! Am Wallfahrtsort Sondershausen hat eine Sühneseele Verbindung mit Armen Seelen im Fegfeuer." Und so weiter – und so weiter. —

Wer sich auf derlei außerordentliche Vorgänge verlegt und sein Hauptinteresse, seine Hauptlektüre an Ausnahmefälle hängt, dessen Glaube ist sehr schwach, besser gesagt: im Kern verbogen!

Zweifellos gibt es Wunder, gibt es Erscheinungen. Daran zu zweifeln, widerspräche dem Glauben an die Kirche. Und die Kirche als solche gewährt endlose Wunder dem, der in die Tiefen der Gottheit empfangend hineinwächst.

Nichts also gegen echte Erscheinungen und Wunder! Alles aber gegen das Sich-darauf-versteifen, gegen das Ausschauhalten nach Wundern, alles gegen die Wundersucht! Welche sich auf außerordentliche Ereignisse – ohne die genaue Prüfung solcher abzuwarten, welche Meister sind in der Unterscheidung der Geister – stürzen , auf Wunder gespannt warten und mit Verbissenheit daran hängen, daß es sich ja um echte Wunder handelt, für die gilt das Wort des Herrn: "Ein böses und ehebrecherisches Geschlecht verlangt in Zeichen."

Und dann kommt das Entscheidende: "Aber es wird ihm kein anderes Zeichen gegeben als das Zeichen des Jonas!" Das Zeichen des Jonas bedeutet, wie eindeutig aus dem weiteren Text hervorgeht, Tod und Auferstehung unseres Herrn! (Matthäus 12,38-40)

All unser Interesse wendet sich zu den alles übersteigenden Geheimnissen der gottmenschlichen Erlösung! Wer dies tut, glühenden Herzens, ohne nach Außerordentlichem Ausschau zu halten, dem und nur dem werden Wunder zuteil. Kein Glaubender, der keine Wundererfahrungen macht; kein Glaubender, der nicht erregende Erfahrungen macht in der Begegnung mit dem über alles geliebten Freund, dem ewigen Bräutigam seiner Seele!

Aber er wird darüber schweigen!

Im Zusammenhang mit dem Gleichnis vom armen Lazarus und dem reichen Prasser heißt es im Munde des Herrn:

"Sie haben Moses und die Propheten; auf die sollen sie hören!" Dem von Christus gemeinten Sinne nach ist das auf den Neuen Bund, in dem wir leben, anzuwenden mit den Worten:

"Sie haben die Lehre der Kirche; sie hauen das heilige Opfer und die Sakramente: das genügt!"

Um den antichristlichen Charakter der neuen Ideologie, die den Innenraum der Kirche belagert und durchherrscht, zu erkennen; um den widergöttlichen Sinn der Reformen zu erkennen, bedarf es einzig und allein der Kenntnis der Dogmen und des Wesens der Sakramente und der Heiligen Schrift!

Was dann hinzukommt an Auskünften über den jüngsten Tag, bevorstehende Katastrophen, die Zahl der Verdammten etc. etc., das lenkt nur ab vom Wesentlichen und ist eher geeignet, unsere Einsatzfreudigkeit und unseren notwendigen und gottgewollten Arbeitseifer im Täglichen zu lähmen!

So ist des Herrn Auskunft und Wille!

 

Herzlichst – Ihr priesterlicher Freund Hans Milch.