Startseite Menü einblenden Übersicht: Sonntagsbriefe 24.02.85 12.05.85 Drucken
Schild der actio spes unica

Meine lieben Brüder und Schwestern!

 

Das waren lauter hochanständige Bürger, fleißige Beter, erfüllt von ihrer Rechtschaffenheit und Integrität, die da Jesus mit Steinen bewerfen wollten. Und ich setze das gar nicht in Gänsefüßchen – es waren hochanständige, rechtschaffene und fromme Bürger. Sie waren von Haß erfüllt gegen IHN.

Warum?

Sie wollten eben ihren Lebensstil unangetastet wissen. Sie wollten als brave Untertanen Gottes sich auf ihr gutes Gewissen verlassen und auf die Gerechtigkeit Gottes pochen können. Und nun steht einer vor ihnen mit höchstem Anspruch. Sie spüren seine Erhabenheit und absolute Überlegenheit. Ihm gegenüber zählt nicht mehr das Polster ihrer guten Werke, in das sie sich schützend einmummen wollen. Da wird jeder Einzelne in seiner Ganzheit gefordert. Nur die totale Entscheidung wiegt. Und das ist freilich ganz und gar gegen den Geschmack der satten Spießer. "Weg mit ihm! Er vermasselt uns das Konzept unserer braven Rechtschaffenheit; er durchkreuzt die Rechnung mit den guten Werken. Er stört unser gutes Gewissen auf. Werft ihn mit Steinen! Tötet! Ihr anständigen Leute – tötet! Beseitigt den Störenfried, der die wohlgesegnete Landschaft mit seinem Schatten heimsucht, in der wir uns auf der Lichtseite der Gesellschaft aalen!"

Meine lieben Brüder und Schwestern!

Wer IHM gehören will, muß sich lossagen von der Masse, lossagen von den gemütlichen Schablonen der Selbstgerechtigkeit und Selbstrechtfertigung. Er setzt in nichts mehr auf das Eigene; er setzt einzig auf Sein Erbarmen, das unendliche Erbarmen, das in keiner Vorstellung übertrieben werden kann, zu dem hin kein übertriebenes Vertrauen möglich ist, dem gegenüber vielmehr das größte Vertrauen noch zu klein ist.

In diesem Vertrauen erst, in Ihm und in Seinem Erbarmen ereignet sich das Wunder der Verdienste. Da gewinnt noch die scheinbar unbedeutendste Tat an göttlicher Macht und göttlichem Gewicht; da wirkt jedes Gebet und jedes erlittene Leid, Unbill, Schmach, jedes Opfer Vermehrung des Einstroms und Ausstroms des Gottesgeistes. Da reißt uns die Liebe, die kein Genug kennt, in den Genuß unverdienter Verdienste, da Er Unabsehbares in uns und durch uns hindurch leistet. Da erwächst in jedem Einzelnen ein göttliches Selbstbewußtsein, das himmelweit (buchstäblich himmelweit) entfernt ist von Selbstgenügsamkeit und Selbstzufriedenheit, das vielmehr, ruhend im Erbarmen, zu höchster Dynamik ausreift und ausgreift!

Das sind die Verdienste, die ein Luther ausgelassen hat, weil er die Umwandlung des Menschen ins Göttliche nicht erkannte, jene Umwandlung, die von der Armseligkeit des sündigen Menschen angelockt wird, gesteigert wird, so daß, wie der heilige Paulus sagt, "Seine Macht und Herrlichkeit in unserer Schwachheit zur Vollendung kommt".

Die Masse besteht nicht etwa aus "asozialem Gelumpe", wie hochmütiges Pharisäertum zu sagen pflegt, sondern eben aus den Pharisäern, den Spießern, den Selbstgerechten. Außerhalb der Masse ist die ganz und gar unmoralische, aber von heiliger Sehnsucht erfüllte Samariterin am Brunnen, die das Wort: "Ich bin es!" mit tiefer Beglückung vernimmt, während die moralischen Spießer mit Steinen werfen, da sie hören: "Ich bin!"

 

Es segnet Sie alle  Ihr Pfarrer Hans Milch.