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Sonntagsbrief vom 5. September 1976

Meine lieben Brüder und Schwestern!

 

Einige Gedanken über Wert und Sinn der Diskussion.

Das Wort steht hoch im Kurs. Es wird – übrigens buchstäblich – "auf Teufel komm heraus" – diskutiert. Die Kleinsten fangen schon an. Voraussetzungslos sollen sie ihre "Meinung" äußern, durch keinen Gehorsam, durch keine Ehrfurcht, durch keine Vorgegebenheit gebunden. Sie sollen die Brücken hinter sich verbrennen und alles "kritisch beleuchten": Eltern, Schule, Lehrer, Aufgaben, Lernfächer, die Art des Unterrichtes – alles. "Demokratisierung" heißt die Parole. Und das Tummelfeld der totalen Demokratie ist die Diskussion, das Mark der Diskussion die "Kritik". Jeder wird mit seinen "Meinungen" von vornherein und in gleicher Weise ernstgenommen. Und was den Kleinen recht ist, ist selbstverständlich den Erwachsenen billig. Jeder hat seine "Ansichten". Wenn er von etwas nichts versteht, um so besser. Dann ist er auch nicht vorbelastet. Er kann allen Bereichen "mit kritischer Distanz" begegnen. – Ein besonderes Vergnügen bereiten Podiumsdiskussionen. Da werden die verschiedensten "Sach"-Bereiche "angerissen", und das zuhörende und zuschauende Publikum kann "besser entscheiden", wer recht hat. – Noch trefflicher geht es zu, wenn eine Sache "ausdiskutiert" wird. Das macht man am gescheitesten mit "gruppendynamischen Prozessen". Verschiedene Gruppen werden aus der Versammlung gebildet. Jede Gruppe findet binnen 30 Minuten währender Diskussion ihr "Ergebnis". Am Schluß werden die "Ergebnisse" aller Gruppen im Plenum durchgehechelt, und am Ende steht das definitive "Resultat". Es ist etwas "aus"-diskutiert worden.

Soweit der von sehr viel Dummheit belastete Diskussionsrummel unserer Tage. Dazu das Folgende:

1.) Nichts gegen das Streitgespräch, das über die verschiedensten Bereiche der Wissenschaft, der Kultur, der Religion, des praktischen Lebens geführt wird. Es heißt im Fremdwort "Disputation" und muß erlernt werden durch gründliche Schulung des Denkens. Das Denken wird eingeübt a) durch Erfassung der Inhalte und der mit ihnen gegebenen Werte, b) durch vergleichende Betrachtung dieser Inhalte und ihrer inneren Gewichte. Diese Geistesentfaltung kostet Mühe, Geduld, Ehrfurcht und langen Atem. Aus ihr ergibt sich die Fähigkeit der Kritik, d.h. die Kunst, vorliegende Taten oder Gegebenheiten an erkannten Wertmaßstäben (Kriterien) zu messen. Eine "voraussetzungslose Kritik" ist ein innerer Widerspruch (wie ein "viereckiger Kreis"). Kritikfähigkeit ist also die Folge einer intensiven Denkschulung. Diese Denkschulung kann auch geschehen durch ein klug gelenktes Gespräch, das durch die Vorstellung von Inhalten und durch Fragen im Geiste der Zuhörer die Ent-Deckung der Wesensgehalte weckt ("Hebammenmethode"). Üblicherweise, aber ungenau wird solch ein Gespräch auch "Diskussion" genannt. Denn

2.) eben die "Diskussion" (zu deutsch etwa "Durcheinanderwirbelung") ist etwas ganz anderes als die oben beschriebene "Disputation". Zwar verwende auch ich jenes Wort, das sich eingebürgert hat, um jegliches öffentliche Gespräch zu kennzeichnen. Aber im eigentlichen, heute nachgerade angebeteten Sinne meine ich es nicht und will ich es nicht. Ich bedaure, daß ich mich gelegentlich solcher Karikatur von geistigem Gefecht zur Verfügung stellen muß. Ein Streitgespräch ohne Denkdisziplin als Schauspiel vor einem Publikum, das kein gewachsenes Verhältnis zu den angesprochenen Inhalten haben kann, ist eine müßige und irreführende Farce. Die Leute reagieren auf blitzartig geschleuderte Antworten, fallen auf das herein, was sogleich "einleuchtet" (und gerade daher sehr oft falsch ist), haben keine blasse Ahnung von dem denkerischen Tiefgang der wahrhaft Wissenden, die aus Verantwortung vor den Inhalten behutsam vorgehen und langsam reagieren müssen bzw. zwangsläufig völlig ratlos den dümmsten Äußerungen gegenüberstehen. Gerade das Dümmste kann eine frappierende, schockierende und lähmende Wirkung auf den wahren Denker ausüben. Aber die ahnungslose Masse klatscht Beifall wie ein Kind, das sich freut, wenn's irgendwo funkt. – Neuerdings ist es bei einigen üblich geworden, auf "Sachlichkeit" aus zu sein und dem "ruhig, souverän und objektiv" Redenden den Vorzug zu geben, einen Vorschuß an Vertrauen. Aber auch hier wird eine gewisse Manier, ein Überlegenheitsgehabe, eine zur Schau gestellte Fairneß für sich selbst gesehen und auf Kosten eines inhaltsorientierten Urteils zum Maßstab gewählt. Diskussionen sind irreführend und geben ein verzerrtes Bild von den wahren Wertgegebenheiten. Sie werden sehr oft von Menschen geführt, die nur in Worten, bestenfalls in Begriffen, niemals aber in vorgegebenen Inhalten und Werten und daher auch niemals in Gewichten und Gesichtspunkten denken.

Willst Du erkennen, wie die Wahrheit sich darstellt, dann mußt Du einem wahren Streitgespräch, einer Disputation zugegen sein. Wenn solch ein hartes Gefecht Dich an Inhalte fesselt und nicht mehr langweilt (Bildung fängt dort an, wo das scheinbar Langweilige beginnt) – die  geistentwöhnten  Ohren  unserer  Zeitgenossen muß es  zunächst langweilen –, dann hat Deine Mündigkeit das Licht der Welt erblickt.

 

Es grüßt Euch alle von Herzen  Euer Pfarrer Hans Milch.

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