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Niederschrift der Predigt von Pfarrer Hans Milch
4. Advent 1982
Schild der actio spes unica

Meine lieben Brüder und Schwestern,

 

es ist in allem alles, daß wir auf das Licht hingewendet sind, uns vom Licht anschauen lassen und dadurch die Kraft bekommen, das Licht zu schauen. Er schaut mich an, ich schaue Ihn an. Und das Licht sehe ich, weil es in mir ist. Und weil die Augen meines Geistes vom göttlichen Lichte durchdrungen sind, vermag ich das Licht selber zu schauen in der Stille. Dafür soll ich mich öffnen, dafür soll ich mich bereitmachen, um dessentwillen soll ich Buße tun – Buße.

"Stimme eines Rufers in der Wüste" , wie der Prophet Isaias sagt. Das heißt, in Ihm kommt der Prophetengeist zur Erfüllung. "Bereitet den Weg des Herrn. Machet eben Seine Pfade. Alle Täler sollen ausgefüllt und alle Hügel und Berge abgetragen werden." Das ist eine klassische Definition der Buße. "Hügel und Berge abtragen", d.h. das Überflüssige. Denn die Buße soll uns zum einfachen und einfältigen Menschen machen. Und der einfache Mensch ist groß – nicht zu verwechseln mit dem primitiven. Und die Begriffe sind verwirrt in unserem Sprachgebrauch. Wenn wir "einfältig" sagen, meinen wir einen Trottel, einen Gutmütigen, der sich ausnutzen läßt, der die Zusammenhänge nicht durchschaut, mit dem man machen kann, was man will; der wird "einfältig" genannt. Eine falsche Bezeichnung, ähnlich wie "Simpel" von "simplex" kommt, der Einfache, der Einfältige. Im Sinne des Evangeliums heißt "einfältig": Der Mensch aus einem Guß, mit dem richtigen Schwerpunkt, ganz auf das Eine hingeordnet, das not tut, des Überflüssigen ledig, von allem befreit, was die Waagerechte ihm auferlegt, von den Irrlichtern der Finsternis frei! Das ist einfach, aber schwer, unbequem, aber herrlich, ein einfacher Mensch zu werden und auf das Eine einfach und einfältig ausgerichtet zu sein!

Die Menschen lieben das Komplizierte. Das ist bequemer. Das ist die Finsternis mit ihren vielen Irrlichtern. Aber die Irrlichter in der Finsternis bestätigen die Finsternis. Aus ihnen besteht sie. Sie haben nichts mit dem Licht zu tun, das in der Finsternis leuchtet. Die Irrlichter, das ist das Zufällige, Flüchtige, das, was kommt und geht, was an die Zeit und an den Raum gebunden ist, und das, was wir uns selber vormachen, die Krücken und Stützen für unser fehlendes Selbstbewußtsein. Noch der krankeste Mensch, noch der entstellteste, von der Natur benachteiligte, hat allen Grund, ein großes Selbstbewußtsein zu entfalten, aber eben nicht aus sich selber, sondern aus dem Erbarmen. Aber wie wenige Menschen gründen ihr Selbstbewußtsein auf den einzig sicheren Grund: auf dem Erbarmen, auf dem Licht, dem einen, alles erhellenden, großen Licht! Sie brauchen Ersatz. Ersatz für mangelndes Selbstbewußtsein ist der ganze Firlefanz und Flittertand von Beleidigtsein, Nachtragen, Haß, Wut über andere, geheime Rachsucht. Und davon sind wir ja erfüllt, von diesem überflüssigen Ballast.

Wie rachsüchtig sind wir im Innersten! Und die Rachsucht ist um so schlimmer, je mehr sie nicht mit deutlichen Schlägen, sondern mit leisen Luftzügen sich darstellt, verschleiert, verhangen mit Andeutungen. Das alles ist Rache! Rache kommt aus Schwäche, aus den weichen Stellen. Wer seiner Armseligkeit ausgeliefert ist, der muß sich mit Beleidigtheiten und Rachsüchteleien scheinbar schützen und stützen. Wer aber in sich gesichert ist, kann diesen Ballast und diese Hügel abwerfen. Er bedarf nicht des Zufälligen. Er bedarf nicht dessen, was in der Zeit und im Raum, in der Waagerechten kommt und geht. Er ist in sich selber gegründet, weil sein Dasein selbst erbaut ist im Erbarmen, das sein neues ICH und sein neues Sein ist. Er selbst versteht sich als Licht im Lichte des Herrn, wie es heißt, als – mit all seinen Leiden und Nachteilen – Organ, Medium Seines Erbarmens.

Es gibt, wie ich geschrieben habe, Heilige, die nannten ihre Gebrechen "Barmherzigkeiten Gottes". Es ist in der Tat so: In allem, worin wir teilnehmen am Leiden des Herrn, sind wir selber Organe Seines Erbarmens, seine Empfänger und diejenigen, die das Erbarmen zurückgeben und ausstrahlen: Träger des Erbarmens, Empfangende und Gebende. Und das allein macht Dich zu dem, was Du wahrhaft bist, und läßt den Gottesgedanken in den Raum des Daseins eindringen. Dein wahres Wesen, Deine Eigentlichkeit kommt dann zum Tragen, wenn Du Dich dem Erbarmen, d.h. dem großen Lichte, preisgibst, darstellst und öffnest. Das heißt "Hügel und Berge abtragen" .

Wir sind viel zuviel mit Überflüssigem in unserer Seele belagert und werden dadurch weithin selbst in unserem Dasein Überflüssige. Es wimmelt in der Welt vor lauter Überflüssigkeiten. Und immer, wenn ich Nachtragende und Beleidigte sehe – mich eingeschlossen –, muß ich mir sagen: Eine Überflüssigkeit mehr. Das ist das, was abzutragen ist, um wesentlich zu werden und sich frei zu machen, um den Blick zu klären, um alles Nebelhafte und Verstellende und Unklare zu beseitigen, damit das Licht Zugang hat, damit wir "arm werden im Geiste" . Denn das Abtragen der Hügel ist genau dasselbe wie die Armut des Geistes erlangen.

Christus knüpft ja an die Armen im Geiste an – ein fester Begriff im hebräischen Sprachgebrauch. Es waren diejenigen, die vom Gesetz nichts verstanden, das "dumme" Volk, das von der Thora nichts versteht, das nicht eingeweiht ist. Und das führt Christus weiter in Sinne einer wahren Tugend, jener Armut, die weiß "Ich bin aus mir nichts, und ich öffne mein Nichts, damit das ewige, grenzenlose Sein einbreche". Wer diesen Punkt erreicht, den Punkt Null einsieht, auf dem er sich von sich aus befindet, den letzten Platz einnimmt, um die Stimme zu hören "Rücke höher hinauf!", der hat den entscheidenden Schritt der Buße getan.

"Machet eben Seine Pfade." – Wir sind voller krummer Linien im Innersten. Tief drunten im Unbewußten breitet sich ein grünlich unklares Gewässer aus, das lauter giftige Blüten hervortreibt. In diesen dünstigen und falschen Grund, durch den wir von Jugend auf zum Bösen geneigt sind, soll Er eindringen. Wenn es heißt: "Machet gerade Seine Pfade", dann heißt das: Seht ein, daß eure Pfade krumm sind, verschlungen. Mehr können wir nicht, als es einsehen und dann den rufen, der "die Pfade gerade machen" kann. Denn der da kommt ist zugleich der Weg, auf dem Er kommt. Wir können uns für Ihn nicht ausstaffieren, und wir können den Weg nicht bereiten. Wir können nur die Voraussetzung schaffen, daß Er den Weg bereiten und die Verschlingungen und Zwielichtigkeiten und Verbogenheiten in unserem Inneren beseitigen kann. Er allein kann es! Wir rufen Ihn an: "Komm!" Immer dieses "Komm! Hier bin ich. Ich habe Dir meine Trümmer zu bringen. Ich bin aus mir nichts. Komm und übernimm mich! Mach Du's! Dring ein mit Deinem Licht, dring ein mit Deinem Erbarmen!"

Und "Die Täler füllet auf", das heißt eben: Erkennt euren Abgrund und ruft danach, daß die große, daß die Riesenlücke angefüllt werde mit Ihm, dem einzigen Gott, durch den, den Er gesandt hat, Jesus Christus. Denn wir sind ein einziges abgründiges Tal. Und der Geist schwebt darüber wachend und wartend auf unseren Willen, Ihn einzulassen, daß Er Fülle schaffe und unsere Armut in Reichtum, unseren Bettlerschemel in den Königsthron verwandle. –

Sehen Sie, von daher ist das, wie ich schon kürzlich sagte, mit dem Tugendstreben eine sehr zweischneidige Sache. Wer es richtig begreift, der begreift es in diesem eben gesagten Sinne der Buße, der Umstellung. – "Was, ihr kommt mit dem an, was ihr macht und leistet? Ihr bildet euch ein, was vorbringen zu können, mit vollen Händen zu kommen, vor Gottes Angesicht bestehen zu können? – Dann geht. Dann fangt an und erkennt, daß ihr nichts seid, daß ihr Überflüssigkeiten, nichtssagende Nebensächlichkeiten und Gewichtslosigkeiten aufzählt, vor denen das große, gewichtgebende Vorzeichen fehlt. Ihr beruft euch darauf, dem Stamme Juda oder dem Volke Israel anzugehören, und nennt euch ‚Söhne der Verheißung‘, Söhne Abrahams. Ihr irrt euch! Was ihr seid, seid ihr nur durch Seine Gnade, durch sonst nichts – weder durch eure Abkunft noch durch eure Vergangenheit, noch durch die vergangenen Geschlechter, noch durch eure Taten, sondern einzig durch Ihn, denn Er kann aus diesen Steinen da Kinder Abrahams erwecken."

Wunderbare Worte! Und die gehen an unsere Seele. Und wenn wir darauf eingehen, setzen wir den Grund für das Tugendstreben, d.h. für die schonungslose, erbarmungslose Selbstkritik, durch die einzig das Erbarmen heraufbeschworen wird. Und im Erbarmen, in der Erkenntnis, daß wir nichts sind und nichts vollbringen und daß uns nichts gelingt, kann in uns heimlich, wie unter der Erde das Samenkorn, die Tugend wachsen, lockeres Erdreich, das den Samen der Liebe einläßt, Verstehen, Güte, Weitherzigkeit, Eingehen auf den anderen, helle Gedanken, "JA"–Sagen zum je einzelnen, seine Größe und Weite, seine Gewichtssetzungen, seine Rangordnung im Geiste wahren. Das können wir aus uns nicht herausstampfen, das können wir nur erflehen durch den, der Herz und Nieren durchforscht. "Komm! Ich bin nichts. Komm, Emmanuel!" Der Geist und die Braut sprechen: "Komm."

Und dann kann Er uns als Medium der Selbstvervollkommnung gebrauchen im Sinne einer Wandlung der inneren Einstellung, einer Weitung des Geistes und einer Mitteilung von Freiheit und Erlösung – aber nicht so, daß man das eigene Tun und Machen mit dem Tun und Machen anderer vergleicht; denn wenn dies geschieht, ist der Pharisäer fertig. Denn wenn ich mich auf das hin, was mir gelingt, beurteile und wenn ich Verzeichnisse anlege über meine eigenen Fortschritte in diesem oder jenem Tugendstreben, dann bin ich ans Vergleichen gewöhnt. Ich vergleiche mich mit irgendwelchen konkreten Vorhaben und eben dadurch mich mit anderen, und schon ist der tadelnde, vorbehaltliche Blick des Pharisäers da, der vergleichende Blick, der waagerechte Blick. Wenn Du schon einen anschaust auf etwas, was er tut oder nicht tut, bist Du schon Pharisäer und Heuchler! Und das ist in Dir und ist in mir und muß ausgerottet werden durch die Erkenntnis, hundertprozentig, ohne Abstriche auf das Erbarmen angewiesen zu sein. Und nur wer das weiß, kann auch mit dem lockeren Erdreich seiner Seele jeglichen einlassen und sich jetzt – im guten, im wahren Sinne des heute mißbrauchten Wortes – mit der "armen" Menschheit und mit dem armen begegnenden Menschen aus jener Tiefe heraus solidarisieren, in die z.B. ein Dostojewski schauen konnte, der sich, seiner eigenen Abgründe bewußt, zum innigen Bruder jeglichen Verbrechers und jeglichen letzten Zuchthäuslers machte und als solchen erkannte. Und nur wenn Du Dich als innigen Bruder, tief verschwistert, tief vertraut, mit gleicher Neigung, zum Bösen und zu jeglichem Verbrechen geneigt, vermählst und vereinst mit dem allerletzten Verbrecher: von dem Punkt an hast du Christus verstanden und nur von diesem Punkte an beginnt das, was Johannes "Buße" nennt!

Sehen Sie, da wird von vielerlei Seite gefragt, nachdem ich immer wieder über das Bußsakrament predige (Immer einmal wieder – das Wesen der Predigt: Wiederholung! Man lese nur die Hl. Schrift. Sie ist voller Wiederholungen, und gerade bei Johannes), und da sagen sich manche: "Ja, was denn nun? Man mag ja gar nicht mehr zur Beichte gehen. Hab ich's denn bisher falsch gemacht? Es ist bei mir nun mal so eingefleischt, von Kindheit an, so zu beichten. Soll ich's denn jetzt anders machen?" – Das setzt schon voraus und beweist eine falsche Einstellung, die berühmte Vorstellung vom "Machen": "Mach ich's richtig?" Das ist schon im Ansatz falsch und lenkt ab vom wirklich Christlichen! Ich hab schon erlebt, daß sich Leute die Haare ausgerauft haben: "Aber, Herr Pfarrer, ich will doch alles richtig machen!" – "Dann geh ins Bett und schlaf, und Du wirst nie alles richtig machen. Beruhige Dich. Wenn Du davon abhängst, bist Du bis zur Stunde nicht erlöst!" – "Ja ich will's doch richtig machen!" – "Das ist ja sehr schön, daß Du es richtig machen willst. Es wird Dir nur niemals gelingen!" Und davon hängt auch weder Hölle noch Himmel ab, vom "Richtig"– oder "Nicht–Richtig–Machen". Das ist eine Schülermentalität. "Herr Lehrer, hab ich's richtig aufgesagt? Hab ich's richtig gemacht?"

"Richtig machen": Da wäre ich verloren für alle Ewigkeit, wenn es davon abhinge, vom "Machen". Also meine Antwort auf die Frage: "Wie soll ich's denn jetzt anders machen mit der Beichte?", die heißt: Du brauchst überhaupt nichts anders zu machen. Mach's wie bisher! Was ich predige, dient der Erweiterung Deines Bewußtseins: daß Du z.B. weißt, daß das, was Du beichtest, eben nur ein Signum ist, ein Zeichen, ein Symbol für Deine eigentliche, weite und breite Sündhaftigkeit, für den Abgrund des Bösen in Dir – denn Du und ich, wir sind böse!

Ich hab's ja schon das letzte Mal gesagt: Weg mit dieser pharisäischen Vorstellung, daß bei denen, die normalerweise vor dem Gesetz bestehen können und nicht mit der Polizei in Konflikt kommen, zu achtzig Prozent alles in Ordnung sei und nur an der Oberfläche sich so ein paar Schwächen tummeln! Wenn Du das denkst, dann versperrst Du natürlich der Gnade und dem Licht den Weg in Dein Innerstes! Aber das steckt in uns, diese Wahnvorstellung! Man kann es nicht oft genug wiederholen: Wir sind böse, von grundauf böse, nicht nur schwach! Und das mußt Du wissen!

Und das, was ich beichte, das ist nur das, was ich feststelle. Da kannst Du sagen: "Ich habe zuwenig Interesse gehabt" – aber das hat jeder von uns! – "Ich habe zuwenig Liebe" – das wissen wir ohnehin. Das brauchst Du nicht eigens zu sagen. Du brauchst nichts anderes zu machen. Das einzige, was Du vielleicht lassen solltest, ist die Routineendung "Das sind alle meine Sünden". Sag lieber "Ich bin fertig" oder "Das wär's", aber sag nicht "Das sind alle meine Sünden"! Denn das ist nicht wahr, das sind sie nicht! Die sind unzählig! "Das ist das, was ich beichten wollte", pflege ich z. B. zu sagen, wenn ich beichte, aber doch nicht "Das sind alle meine Sünden". Du liebe Zeit! Sie sind es natürlich nicht, sondern wir bedürfen bis ins tiefste Dessen, Der eindringt!

Daß unser Bewußtsein erweitert werde, darum meine Worte, nicht daß Du was anderes machst. Komm doch los vom "Machen". Haltung, Gesinnung, Einstellung, Interesse, Feuer: danach frage! Und was Du dann artikulieren kannst, das sind dann die kleinen Nebenprodukte Deiner großen Sündhaftigkeit, Deiner und meiner. So sollst Du es sehen und wissen, aber nichts anders machen!

Überlaß das "Machen" und "Richtigmachen" den Mohammedanern. Die müssen sich natürlich fragen, ob sie es richtig gemacht haben. Aber das ist nicht des Christen, des Erlösten! Der fragt nach seiner Daseinsantwort auf den blutenden Gott, der mit blutenden Händen kommt und Dir Seine ganze Freundschaft anbietet. Daran miß alles! Auf dieses Licht schaue! Laß es ein, laß es in Dir wirken! Dann trage Deinen Kopf hoch. Und Dein demütiger Stolz schließt den Himmel ein – Dein hochmütiger Stolz die Hölle! Sei von demütigem Stolz auf das Licht begierig, süchtig nach dem Lichte, es einsaugend, mit allem fiebernd: "Komm, Du großes, ewiges, unendliches, alles erleuchtendes, wegweisendes, aufrichtendes, mich selbst bildendes, mir ein neues ICH gewährendes Licht." AMEN.