Niederschrift der Predigt von Pfarrer Milch
1. Advent 1983
Meine lieben Brüder und Schwestern,
wenn es übrigens heißt im Evangelium "Eure Erlösung naht", dann ist die Erlösung vom Leiden gemeint. Die eigentliche Erlösung ist ja längst da! Das ist die Erlösung des Leidens! Unsere Erlösung besteht nicht darin, daß wir von ungerechtem Leiden, Tod, Marter usw. erlöst sind, sondern daß das, was uns bedrängt, erlöst ist, d.h. daß Gott selber, der menschgewordene und der Seine Menschwerdung in uns und durch uns fortsetzt, all unser Leiden, wenn wir wollen, annimmt, Sich zu eigen macht, so daß unser Leiden, Arbeiten ein Christusleiden und ein Christustun wird und dadurch göttliche Kräfte von uns ausgehen. Das bedeutet jetzt die Erlösung, die Erlösung des Leidens!
Am Ende wird die Erlösung vom Leiden kommen. Das ist der Unterschied! Man kann auch sagen, die Erlösung vollendet sich. Aber prinzipiell ist sie schon da. Wir sind herausgelöst, erlöst, geweckt, gerufen aus dem innerweltlichen, hoffnungslosen, aussichtslosen Geschick.
Und das soll unser Thema sein heute, meine lieben Freunde: der Tod! In jedem Menschen ist eine Sehnsucht nach Unendlichkeit, die Sehnsucht danach, alle Grenzen zu überwinden, und eben dadurch die Sehnsucht nach dem Sterben. Sie ist unauslöschlich in den Geist des Menschen eingegraben. Bei sehr vielen, bei den allermeisten Menschen ist dieses Verlangen verschüttet, überdeckt, zugeklebt, zugemauert; es kommt nicht zum Vorschein. Aber hin und wieder, und bei wenigen dauernd, ist diese unstillbare Sehnsucht da. Sie kommt aus dem großen urgegebenen Vertrauen, das uns drängt, daß wir uns fallenlassen wie ein Samenkorn hinein in die fruchtbare, lockere Erde. Und die Erde ist Gott. Es ist das Verlangen nach Gott, das uns eingegraben ist, weshalb es im Grunde keinen "Atheisten" gibt, sondern nur solche, die sich einbilden welche zu sein oder die gegen ihr innerstes, wahres Wollen und Wollen-müssen beharren auf dem NEIN zu ihrem eigenen Wollen, die ihr Verlangen nach dem unendlichen Gott nachdrücklich verleugnen und darum NEIN zu sich selber sagen! Und wenn dieses NEIN endgültig ist, ist es die Eigenverurteilung zur ewigen Verdammnis! Aber das Verlangen nach dem Tode in der unbändigen Aussicht, weithin unbewußten Aussicht, endlich die Grenze zu überschreiten, endlich über die Schwelle zu kommen, die ist unabweisbar notwendig in einem jeden von uns!
Ich denke an den Freudenrausch eines Heinrich von Kleist, als er sich endgültig entschlossen hatte, seinem Leben ein Ende zu bereiten. Er war in einer seligen Hochstimmung: "Endlich. Ich habe selbst die Macht, mich zu befreien!" – Selbstverständlich ein Irrtum! Er hatte kein Recht dazu! – "Mir ist auf dieser Welt nicht zu helfen", sagte er. Und allein der Gedanke auszubrechen war für ihn etwas, was einen Freudentaumel auslöste.
Aber wir sollten unseren Blick richten auf den höchsten Moment, auf den Gipfel. Von da aus, vom Tode aus, von diesem Zenit haben wir die Überschau und wissen die Dinge richtig einzuordnen. Wer sich mit dem Augenblicke des Todes bekanntmacht, anfreundet, vertraut macht, der gewinnt jene Höhe, von der er alles beurteilt, ohne beurteilt werden zu können! Und es ist schließlich Er selber, der freundliche Tod, Christus mit Seinem milden und festlichen Angesichte, der uns, die wir vom Engel geleitet werden, aufnimmt und in Seine Arme schließt: "Sei getrost, Ich bin es. Fürchte dich nicht!"
Das ist dem Menschen vor allem bewußt, der sich zur Liebe entschließt, der ausbrechen will. Und jeder bricht aus, der sich auf Christus einläßt, der Christus annimmt, der das Angebot des unvorstellbar nahegewordenen Gottes annimmt! Denn Er kommt, wie ich vor acht Tagen sagte, Dir ganz nahe, unvorstellbar nahe, näher geht’s nicht! Und Er läßt Dir Zeit und Ruhe! Er bedrängt Dich nicht! Unaufdringlich bietet Er Sich Dir an und gibt Deiner freien Entscheidung Atemraum! Und wenn Du den nahen Gott erkannt hast, bist Du ja schon im Geiste hinübergeschritten vom Nichts ins Sein, von der Finsternis ins Licht und hast das neue Leben und bist eben dadurch, durch die große Liebe, durch den Eros, der Dich in die Inhalte Seiner Offenbarung drängt, dem Tode tief vertraut und des Sterbens fähig. Denn wer lieben kann, kann sterben, weil sterben und lieben ein und dasselbe ist, sich selber verlassen, hineinmünden in das geliebte DU, um dort aufzuatmen, dort, wo Nähe ist ohne Enge, Weite ohne Ferne. Denn das innigste Vertrautsein, die tiefste Intimität, die kosende, zärtliche Liebe, das Aufgehobensein – im doppelten Sinne des Wortes: der Berge und des Erhobenseins –, das "Aufgehobensein in Ihm" bedeutet ein Freiwerden, Freiwerden von jeder Grenze; schon jetzt im Grunde, wenn wir genau hinschauen, Sein Antlitz auf uns leuchten lassen und Seine Wahrheit in uns einträufeln lassen, Ihn eintreten lassen, damit Er uns aus dem engen Raume des Hiesigen herauslockt und weckt und schon jetzt heimholt in Sein Reich, von dem Er sagt, "Es ist in euch"!
Alles Leiden, meine lieben Freunde, kommt von der Grenze, kommt vom "Genug". Wir wollen kein "Genug"! Jeder Mensch leidet logisch notwendig, weil er an Grenzen stößt und weil sein Verlangen ins Grenzenlose geht. Wenn er Gott will, den Angekommenen, der die Entfernung überwunden hat, wenn er Ihm begegnet und zu Ihm "JA" sagt sich hingebend, dann mündet diese Sehnsucht in dem, der allein wirklich der Unendliche ist – oder sie geht ins Innerweltliche hinein und dann gibt es Konflikte. Solange nicht alle Menschen sich total Christus hingeben, wird es Konflikte auf dieser Welt geben! Eine konfliktlose Welt anzustreben durch psychologische Überlegungen, Konfliktforschungen, durch Einsatz von Vernunft usw. ist eine wahre, sinnlose Illusion! So wahr zwei mal zwei vier ist, wird es Konflikte geben bis zum Ende der Zeiten, solange wir in diesem Leibe sind! Daraus gibt es kein Entrinnen!
Und wir werden leiden, weil wir immer an Grenzen stoßen. Weil wir leben wollen, müssen wir leiden. Die Buddhisten entziehen sich dieser fatalen Lage, in der der Mensch sich befindet: Er will leben und er will grenzenlos leben; er will das volle, das füllige Leben, von dem der Herr spricht, das Leben. Aber immer im Tage tönt ihm aus allen Ecken und Enden der Ruf zu, dieser tyrannische, peinigende Ruf: "Genug!" Der Buddhist zieht daraus die Konsequenz: Also gebe ich den Willen zum Leben auf. Wenn ich nicht mehr leben will, wenn ich völlig interesselos werde, völlig apathisch, dann bin ich glücklich, dann hört das Leiden auf. – Das ist der falsche Weg!
Unser Weg ist anders. Wir leiden und wir werden leiden, bis zum Punkt, wo wir die Schwelle überschreiten dürfen. Aber dieses Leiden hat der auf Sich genommen, der Mensch wurde, uns in allem gleich außer der Sünde und in diesem Gleichwerden mit uns eben auch an die Grenzen stieß. Gott stößt an Grenzen! Dadurch wird dies An-die-Grenzen-Stoßen selber göttlich und hineingenommen in Seine Macht. Aber einmal wird’s wahr. Und darauf spannen wir. Und wir wollen das Leiden überwinden nicht durch Leugnung des Lebens und des Leben-Wollens, sondern wir wollen das Leiden überwinden dadurch, daß wir in das ganze unendliche Leben einsteigen, unendlich genießen, unendliche Wonne erfahren wollen, unendliche Macht ausüben wollen, totale Geltung, Ruhm. Und das wird uns zuteil jenseits der Schwelle in Christus!
Da ist jeder einzelne Mitte. (Das entzieht sich unserer Vorstellung, aber das ist die Wahrheit. Das gehört zur Offenbarung.) Jeder wird Mitte sein. Jeder wird von allen umkreist, umjubelt, gelobt werden: jeder in jedem, alle in jedem, jeder in allen. Das ist die All-Einheit, die wir genießen werden jenseits aller Grenzen, wenn das "Genug" überwunden ist und wenn wir dieses Wort, dieses peinigende, nicht mehr vernehmen, wenn wir aus unserer Enge, aus unserem Eingebannt- und Eingespanntsein im engen Raume endlich gelöst, erlöst sind, hinausgerufen in jene Weite, die keine Ferne kennt – wie gesagt – und jene Nähe, die keine Enge kennt.
Denn welches Elend lastet doch auf der Welt? Man sagt, dies mit dem Jammertal sei eine falsche, pessimistische, erd- und weltverneinende, eine negative Einstellung, eine Absage ans Leben, etwas Trostloses, Müdes, Blutleeres zu behaupten, die Erde sei ein Tal der Tränen. – Das ist nicht blutleer und müde, sondern das ist der Protest unseres Anspruchs an das Leben, daß wir feststellen: Das soll es sein? Ist das alles? Das ist unmöglich!
Wir kommen nicht umhin. Wir brauchen nicht weit zu gehen, um unter Dach und Ziegel festzustellen, wieviel Greuel, wieviel Tragödien, wieviel Grauen sich ringsum ereignen. Der Herr, als Er die Stätte besuchte, wo Er Erholung, Ruhe, Liebe, Geborgenheit fand, wo Er sich Kraft holte und sammelte in einer Atmosphäre des Vertrautseins, als Er nach Bethanien kam, wo Sein Freund Lazarus schon vier Tage unter der Erde lag – "Herr, er riechet schon" -, da heißt es zweimal: "Er ergrimmte im Geiste." Das wird immer so falsch und beschwichtigend übersetzt mit "er war erschüttert im Geiste". – Das ist ja völlig falsch! Es heißt "Er ergrimmte". Es war in Ihm Zorn, nicht ein Wutanfall, sondern Zorn! Wir sollen Zorn haben als ein Konstitutiv unseres Daseins. Der Mensch, der keinen Zorn hat, kein Aufbegehren, der ist in der Tat ein blutarmer Mensch. Und dann wird diese Stelle "Er ergrimmte im Geiste" oft übersetzt bzw. erklärt dadurch, daß man sagt, "Er war böse darauf, erzürnt darauf, daß die anderen ringsum nicht glaubten." – Diese Erklärung ist Unsinn!
NEIN: das war Sein Ergrimmen, Seine Empörung gegen die Macht des Fürsten dieser Welt, gegen die Erniedrigung des Menschen, der dem Gesetz des Werdens und Vergehens preisgegeben ist! Er, der menschgewordene Gott, lehnte sich im Namen der Menschen gegen den Fürsten der Welt auf!
Man denkt an Beethoven, an seine letzte Sekunde vor seinem Hinscheiden nach dem entsetzlichen Schicksal seines Erdenlebens, taub zu sein. Es donnerte und blitzte. Vom Donner hörte er nichts, aber er sah den Blitz zucken. Und er erhob sich noch einmal, mit beiden Fäusten gegen das Fenster sich reckend, und dann fiel er um, entseelt. Das war kein Aufruhr gegen Gott, sondern auch ein Ergrimmtsein gegen die Macht des Fürsten dieser Welt, von dem einzig und allein alles Übel, jegliche Krankheit kommt!
Ich denke gerade an das Alter. Ich denke an die alten Menschen in ihrer Einsamkeit, an ihr Abgeschobenwerden. Welcher alte Mensch hat nicht den Lebenswillen, daß er über die Schwelle will, zumal er gerade heute "versorgt" wird? Man darf ja um Abwendung schlimmen Kreuzes beten. Der Herr hat es uns vorgemacht, also dürfen wir es auch: "Lass diesen Kelch an Mir vorübergehen". – Beten Sie jetzt schon, daß der Kelch des Versorgtwerdens einmal an ihnen vorübergeht. Nichts Infameres, als die Versorgung des alten Menschen! Die heißt nämlich: in die Ecke stellen, entmündigen, ihn nicht mehr Ernst nehmen und wie ein dummes kleines Kind behandeln. Das ist meistens die liebevolle Versorgung der "alten Leutchen", wie gerne gesagt wird. Wer nimmt sich noch die Mühe, auf sie zu hören, die langsamer sprechen und langsamer reagieren? Wer nimmt sich noch die Mühe, zuzuhören, auf sie einzugehen und sie nicht zu belächeln? Die Alten nehmen zu in unserer Gesellschaft, aber im Grunde werden sie abgelehnt als Störfaktor. Und die Jüngeren halten sich für die Vernünftigen, Eigentlichen und die Alten für die Uneigentlichen. Allein durch das Altwerden (De Gaulle sagte einmal: "Das Alter ist ein Tiefschlag gegen die Menschenwürde." Das hat er irgendwo richtig empfunden.), allein das Altsein der Alten breitet sich wie ein furchtbarer Schatten über diese Erde, meine lieben Freunde. Und daraus muss man hinaus wollen.
Wie kann ich die Alten verstehen, die nicht nur aus Müdigkeit, sondern auch durch Aufbegehren hinaus wollen. Ich kenne viele Menschen, die begehren auf. Das wird sehr oft als Undankbarkeit, Ungeduld usw. abqualifiziert. – Nein! Sie haben Recht, sich aufzulehnen und aus dieser Auflehnung heraus zu verlangen nach der Schwelle, jenseits derer dann das große, grenzenlose Leben beginnt, wo es eben nicht aufhört, wenn’s am schönsten ist, wo wir nicht uns versagen und Enthaltsamkeit üben, wo es am besten schmeckt, sondern wo das Allerbeste in unvorstellbarer Grenzenlosigkeit ewig währt in ewigem Genuss.
Das gilt auch gerade für das Sterben in der Liebe. Das Sterben soll ein Liebesvollzug sein. Wenn ich meinen Körper verlasse, ist das der äußerste Liebesgang zu Ihm hin, Ekstase, Außer-sich-Sein. Wenn ich außer mir bin, bin ich im Eros und im Tod, d.h. in Ihm. Und wenn Christus in Seiner Nähe uns umarmt "Sei getrost, Ich bin’s", dann trägt Er auch das Antlitz der geliebtesten Menschen, und Er sagt: "Ich bin Legion." Denn es ist der mystische Christus. Und in Ihm ist jeder je Geliebte in seiner Unverwechselbarkeit, als Individuum, als Person einmalig da. Und Christus identifiziert sich mit diesem geliebten Menschen, und er schaut Dich an.
In einem großen Musikdrama heißt es einmal: "Stürben wir unserer Liebe, wie könnte die Liebe mit uns sterben." Allein darin ist schon ein grenzenloser Beweis für jene Aufforderung und Verheißung des ewigen Lebens, die ahnungsvoll in jedem Menschen webt und lebt. "Wie könnte die Liebe mit mir sterben." – Alle, die je Du vermißt und die Dir ans Herz gewachsen sind, Du wirst sie in Christus in der all-einen Herrlichkeit wiedersehen; denn in der Ewigkeit ist grenzenlose Liebkosung. Am Ende wird nur Kuss sein, und um des Kusses willen sind alle Dinge geschaffen.
Dem sieh entgegen! Das ist die große Lockung, die Herauslockung des Gottmenschen: "Ich weiß, was Du willst. Hier ist es. Ich kenne Deinen Anspruch an das Leben." Laß diesen Anspruch durch nichts Dir abkaufen!
Und jetzt kommt das Paradoxe: Du hast keinen Anspruch auf Deinen Anspruch, weil Du selbst ein begrenztes geschaffenes Wesen bist. Gnadenhaft wird Dir zuteil, was Du verlangst. "Ich bin da mit ausgebreiteten Armen. Sag ,Komm?." – "Ja komm, Herr Jesus!" – Und das ist der adventliche Liebesruf, der in uns aufbrechen soll: Todessehnsucht, Sehnsucht nach Unendlichkeit! Ich will aufgelöst werden, d.h. ich will aus meinen eigenen Grenzen heraus wie das Samenkorn in der Erde. Solange es auf dem Porzellanteller ist, unter einer Glocke, ist es klein und armselig und begrenzt. Fällt es aber in Ihn, in die fruchtbare Erde, die Er ist, dann werden alle Hüllen gesprengt. Und so wird es mit Dir und mir geschehen, da wir Samenkörner sind, und wir werden aufgehen in unbeschreiblicher Herrlichkeit – lauter mystische Rosen.
AMEN.
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