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Niederschrift der Predigt von Pfarrer Hans Milch
4. Fastensonntag (Laetare) 1987
Schild der actio spes unica

Meine lieben Brüder und Schwestern,

 

an anderer Stelle heißt es: "Als Jesus die Scharen sah, war Er von Erbarmen für sie erfüllt, denn sie waren wie eine Herde ohne Hirt."

Warum waren sie "ohne Hirt"? – Weil sie in der Masse waren, und weil sie in der Masse liefen: deshalb waren sie ohne Hirt! "Befreit" in die Vorstellung – Falschvorstellung! – als gehöre zum Hirt auch die Kolonne. Genau das meint ja Christus nicht! Wenn er das Gleichnis von Herde und Hirt bringt, legt er ja großen Wert auf die Unterscheidung: "Er ruft die Einzelnen beim Namen."

Übrigens, der Massendrang, das heißt der Drang zur Masse, zur Kolonne, zum Kollektiv ist nicht etwa typisch russisch, sondern typisch westlich! Es beginnt in der Weichselgegend, daß man anfängt, so gerne in Massen aufzumarschieren. Im heiligen Rußland war das ganz und gar nicht so. Da gab’s die Einzelwallfahrt, da gab’s die einzelnen Pilger, von denen Dostojewski sagt: "Von ihnen wird die Rettung Rußlands ausgehen."

Diese große Kolonnensucht, Eisenbahnzüge mit Vorbetern durch Lautsprecher: dieses Massengedränge, diese Massenlust, die ist typisch westlich. Vom Westen stammt ja der Marxismus, der Nationalsozialismus. Und alles Kollektivistische ist ja ausgesprochen westlich, ganz und gar nicht typisch russisch. Der Bolschewismus ist etwas zutiefst Antirussisches, seinem ganzen Wesen nach!

Gerade die, die in der Masse und mit der Masse laufen, haben keinen Hirten. Einen Hirt hat der, der sich herausrufen läßt. Wir sind also Kinder der Freien, und der hl. Paulus wird nicht müde gerade im Galaterbrief zu beschwören: "Für die Freiheit hat uns Christus befreit", daß wir aus eigenem gnadenhaften Antrieb und durch die Gnade und durch den Antrieb der Gnade befreit werden zu eigener Entscheidung; und die freie eigene Entscheidung, die Wahl, die Auswahl ist immer des Einzelnen und beruht auf Gegenseitigkeit. Christus wählt Dich aus und ruft Dich aus der Menge heraus – "Ecclesia", die Herausgerufene! Und Du wählst Ihn und bindest Dich – um ganz frei zu sein – an IHN! Unter tausend Angeboten wählst Du IHN aus und sagst Dein "JA"-Wort um Seinetwillen, um frei zu sein, denn es geht Dir um IHN!

Dies ist ganz entgegengesetzt zu der verbreiteten Einstellung, die da sagt: "Was soll ich mich verrückt machen. Sollen die doch die Verantwortung tragen, die die nötigen Voraussetzungen haben, ihr Studium und ihre Weihe: die Bischöfe, die Priester, der Papst; die müssen es ja wissen. Ich gehorche, und die anderen haben die Verantwortung." Diese sklavische, unfreie Einstellung füllt den Progressisten ja die eroberten Kirchenräume, dieses Massendenken "wir müssen gehorchen". Nicht "wir müssen gehorchen", sondern "ich habe mich entschlossen!" Und daraus kommt dann jener Gehorsam, der in der Hörseligkeit besteht. "Ich habe mich entschlossen! Ich bin Ich, durch Christus herausgerufen, und kann nur in Ihm aufatmend ,ICH? sagen, wie Er ,ICH? sagt und Sein ,ICH?-Sagen auf mich überträgt."

Das ist die Freiheit, zu der Dich und mich Christus befreit hat! – Und dagegen steht so dieser Drang, immer irgendwo andere drumherum haben zu müssen, mit anderen zusammensein zu müssen. Die Freie – Sarah – die Magd des Trajan; das ist sinnbildlich. Sarah ist ein Vorbild, Vorzeichen, schattenhaftes Vorzeichen der Freiesten der Freien: Maria! Maria ist der Inbegriff der Freiheit!

Warum erkennen die evangelischen Christen die Marienverehrung nicht an, jedenfalls lange nicht in dem Maße, wie wir sie vollziehen? – Weil sie ein gestörtes Verhältnis zur Freiheit haben! Denn nach evangelischer Theologie aller Nuancen ist es so, daß der Mensch von Gott gezwungen wird, mehr oder weniger. Auch nach Luther’scher Deutung ist der Mensch entweder vom Satan oder von Gott geritten. Er hat im Tiefsten keine freie Entscheidung. Nach katholischer Überzeugung ist der Mensch aber frei in seiner Entscheidung und entscheidet sich für Christus; und hier ist Maria das Urbild der Freien und der Freiheit!

Es ist herrlich, das Angesicht der zu schauen, die frei ist und sich frei entschlossen hat: "Siehe, ich bin die Magd des Herrn. Mir geschehe nach Deinem Wort." – "Magd" hier eben nicht im Sinne für Unterordnung, sondern im Sinne der bedingungslosen Übergabe: "Mach mit mir, was Du willst. Ich bin Dein!" Es ist das bräutliche Magdsein der Liebe. Die Liebe steht immer im Zeichen der Freiheit und eben deswegen im Zeichen des Dienstes. Lieben heißt Dienen, Geliebtwerden heißt Herrschen! Maria ist deshalb Magd und Dienerin, weil sie sich in freier Entscheidung ausliefert: "Ich bin Dein, Du bist mein!"

Wir feiern am Mittwoch das Fest der Verkündigung Mariens – Brautfest! Mir fiel in dem Zusammenhang ein Vers Hölderlins ein: "Nun feiern das Brautfest Götter und Menschen." – "Götter": sehr viele heidnische Völker nannten "Götter" diejenigen, die sie in einer gewissen Geisterfahrung wahrgenommen hatten, Engel also. Sehr viele sogenannte Göttererfahrungen sind Engelerfahrungen, aber das ist ein Kapitel für sich. Wir prägen also den Vers so: "Nun feiern das Brautfest Engel und Menschen." Und alles, was in den Evangelien niedergelegt ist, ist diese große Entfaltung der Hochzeit zwischen Gott und Mensch – und Maria ist exemplarisch und urbildlich für den bräutlichen Charakter bei Gott! Der Geist und die Braut ist dasselbe! Maria wird Braut, weil der Hl. Geist sie durchdringt und formt, weil sie Gefäß, Tempel des Hl. Geistes ist. Und der Hl. Geist wirkt in ihr die Freiheit der bräutlichen Hingabe. Und wenn wir auf sie schauen, dann ist sie der "spiegelnde Bronnen"; das ist das beste Wort, das man wählen kann, "der spiegelnde Bronnen des Gottmenschen". Sie spiegelt Seine Herrlichkeit wieder und schaut Ihn an in der königlichen Souveränität der Ekstase.

Die wahre Ekstase besteht nicht in einem wilden Gebaren. Das wilde Gebaren, das rundum Stühle zertrümmert und Scheiben einschlägt, das ist die Gegen-Ekstase, die dämonische – die göttliche Ekstase ist die der Ruhe! Alle Unruhe kommt davon, daß Du und ich an Grenzen stoßen. Ist aber die Grenze überwunden, dann bin ich außer mir und komme zur vollendeten Ruhe. Das Antlitz der Königin, die von ihrem Diener Gabriel ehrfürchtig gegrüßt wird, ist das Antlitz der königlichen souveränen Ruhe, wie es uns entgegenstrahlt in den Ikonen.

Und sie ist zugleich Mutter, denn das hängt damit zusammen, daß sie Braut ist im Tiefsten – das sage ich zur Ergänzung dessen, was ich am Mittwoch sagte: Weil die Braut den Bräutigam empfängt, das heißt "ganz in sich hineinnimmt" das Ewige EINE WORT das nottut, läßt sie es in sich reifen im Bronnen, das heißt "im Schoß". Denn der Schoß ist immer gekennzeichnet durch strömende Wasser, und darinnen wächst das WORT und wird geboren. Braut wird Mutter: das Bräutliche empfangen, entfaltet und gestaltet sich zum mütterlichen ratenden Sein. Sie ist Braut und Mutter des Gottmenschen! Sie ist Mutter ihres Bräutigams und Braut ihres Sohnes! Und damit ist eine urbildliche Gegebenheit ausgesagt für jegliches tiefere Verhältnis von Mutter und Sohn, wie es sich im Laufe der Geschichte und der Geistesgeschichte immer wieder einmal zeigt. Gerade zwischen Mutter und Sohn begibt sich das Atemberaubende, Geheimnisvolle!

Und nun hören wir die Geistikone dieses Gebetes, gestaltet vom Erzengel Gabriel und der vom Hl. Geist erleuchteten Elisabeth. "Gegrüßet seist Du Maria, voll der Gnade." Das Griechische ist uns hier weit voraus: im Deutschen läßt sich thematisch nicht gut sagen "Du schlechthin Begnadete" – aber das ist das Ursprüngliche! – "Sei gegrüßt, Du Begnadete." Sie ist die Begnadete schlechthin! – "Gegrüßet seist Du Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit Dir." – "Dominus tecum" – "cum": überwölbend, umfassend, einschließend; das ist im Lateinischen "cum" oder die Vorsilbe "con", gegenüber dem im Deutschen teilend schneidenden "mit", das nebeneinanderstellt und verteilt. – "Der Herr ist mit Dir", das heißt, der Herr ist in Dir und Du bist im Herrn! Es ist eine Einheit von Herr und Dir! "Kyrios estin": "Es ist der Herr in Dir" – "Dominus tecum" – welch ein Bild!

Das muß man atmen, die Atmosphäre. "Gegrüßet seist Du Maria, voll der Gnade", das heißt: Überwältigt und durchdrungen von dem neuen Leben. Du bist ganz und gar neue göttliche Kreatur – ein scheinbarer Widerspruch, aber ein heiliger, ein bezwingender, ein hinreißender, unendlich beglückender Widerspruch. Du bist ganz vergöttlicht. Dein Geist ist nun göttlich geschaffen, Gott ähnlich, das Leben Gottes in sich tragend, eben das, was göttlich machendes Geschenk ist, heiligmachende Gnade. Da ist sie also vom Licht Gottes durchflutet und überflutet, denn der Herr ist eins mit ihr. – Das erstmal stehenlassen: "Gegrüßest seist Du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit Dir".

Und dann die Worte Elisabeths: "Du bist gebenedeit unter den Weibern und gebenedeit ist die Frucht Deines Leibes, Jesus". Das ist Goldgrund, das ist Ikone. Und nun geht sie im VATER UNSER hinab, betend, mütterlich, entbrannt. Als zweite Eva, als Mutter der Lebendigen umfaßt sie Dich und mich. "Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes! Amen."

Die "Stunde des Todes" ist die Stunde der Versuchung, die Stunde des Offenbarungseides, die Stunde, da Deine Armseligkeit und Schwachheit und Hinfälligkeit deutlich wird, die Stunde der Grenze, die äußerste Stunde, wo Du in Deiner Geschöpflichkeit absolut hilflos bist, verkommen, der Sünde verfallen, zur Sünde geneigt: das ist die "Stunde des Todes". – Du und Ich: wer hat nicht schon die Stunde des Todes erfahren; und da, in uns hineingehend: "Bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes! Amen."

Auch hier der majestätische Plural. "Bitte für mich Sünder, die Du ohne Sünde bist, Mutter Gottes, Gottesgebärerin", wie Cyrill, den wir am neunten Februar feierten, vor dem Gotteshaus zu Ephesus der Menge verkündete: "Emmanuel ist Gott, Maria aber ist Gottesgebärerin!" Worauf dann die große Lichterprozession, die historische, sich im Jubel ereignete.

So steigt Maria hinab, um alles hineinzunehmen in ihren Schoß, denn sie ist der kosmische Schoß all derer, die sich bergen wollen im Schoß aufgrund ihrer Armseligkeit. Ich erkenne meine Armseligkeit und sehne mich nach dem Schoß. Und dieser Schoß ist die Verheißung, die wirksame Verheißung des ewigen mütterlichen Schoßes des Vaters, wo der Sohn waltet und alles ist eins. So ist auch dieses "Gegrüßet seist Du, Maria" Urgebet der Kirche, ein Gebet des langen Atems, des Sich-Bergens in der ewigen Freude. AMEN.